Meine Lebens-Forschungsreise hat mich nach einer Phase reiner Theoriearbeit besonders durch die Erfahrung von Tai Chi Chuan, Qi Gong und Somatics (wieder) vom Kopf auf die Füße gestellt, so dass
ich inzwischen theoretische Reflexion und Körper-/Leiberfahrung als eine untrennbare Einheit somatisch fundierten Erkennens und Verstehens begreife. Die Forschungsthemen entstanden (und
entstehen) dabei geleitet von Staunen, Störungen, Irritationen, Neugier, Begehren, Begegnungen, Erfahrungen und Zufällen an Schnitt- und Reibungsflächen persönlicher und gesellschaftlicher
Fragestellungen.
Verschiedene neuere wissenschaftliche und philosophische Ansätze wie Leibphänomenologie und Embodiment-Forschung zeigen, dass es eine somatische Basis gibt, die soziales Verstehen, Kommunikation
und Intersubjektivität überhaupt erst ermöglicht und damit die Basis unseres Selbst- und Weltverhältnisses bildet. Entsprechend ist es theoretisch aber auch praktisch wichtig, diese Grundschicht
unseres Fremd- und Selbstverstehens genauer zu erfassen und gegenüber dem traditionellen Vorrang theoretischen Wissens und Verstehens als fundamentale Erfahrungsweise geltend zu machen.
Ein wesentliches Ziel meiner derzeitigen Forschungen besteht entsprechend darin, einen Brückenschlag zwischen Reflexion und Sinnlichkeit, aber auch Theorie und Praxis möglich zu machen und das
theoretische Verstehen und Wissen wieder an somatische Erfahrungen rück- und anzubinden. Dies beschäftigt mich in unterschiedlichen Praktiken und Kontexten: zuletzt etwa in einem Seminarprojekt
von Frau Prof. Paulat mit Architektur-Studenten der Hochschule München (Frühjahr 2017, vgl. Projektbeschreibung unter „Texte“) oder in einem Forschungs-Workshop an der Somatischen Akademie Berlin
zu Stimme, Ausdruck und Sprache („Somatic Voices“, Oktober 2017).
Dabei geht es mir vor allem auch darum, die Aufmerksamkeit der Teilnehmenden auf ihre eigenen somatischen Erfahrungen zu lenken und ein genaues und erfahrungsnahes Beschreibungsvokabular für
diese zu finden bzw. für sich und in der Gruppe entwickeln zu lassen.
Besonders wichtig ist dabei für mich der Aspekt einer ‚Vorgängigkeit der Situation‘ und ‚unhintergehbaren Bezogenheit‘, dass also ‚Beziehung das fundamental Erste ist‘, wobei Beziehung hier nicht
per se eine harmonische oder emphatische Beziehung bedeutet, sondern unterschiedliche Qualitäten haben kann! Wir alle sind immer schon in einen Verweisungszusammenhang geboren, stehen also nicht
als isolierte Subjekte der Welt und einander gegenüber, und erfahren die Welt nicht als eine Ansammlung isolierter Reize oder Informationen, sondern als holistischen und synästhetischen
Erlebenszusammenhang, der immer schon Bedeutung für uns hat.
Maurice Merleau-Ponty hat dies als ‚Zwischenleiblichkeit‘ beschrieben: Als empfindender, spürender, und zugleich empfundener und gespürter Leib-Körper sind wir immer schon in eine von Qualitäten
und Bedeutungen strukturierte Welt eingebettet. Durch diese ‚Verschränkung‘ oder ‚Verflechtung‘ von Leib und Welt bzw. Mitmenschen, aber auch von Natur und Kultur, können wir überhaupt erst
erkennen und verstehen, so wie sich umgekehrt die Bedeutung bzw. der Sinn der Welt in unserem Wahrnehmen und Handeln ausdrückt. Dieses leibgebundene Erschließen und Verstehen ist der Vernunft
vorgängig, entwickelt sich in einem Prozess von Frage und Antwort und ist Ausdruck einer fundamentalen Bezogenheit und ‚Responsivität‘.
Damit ist ein für mich zentraler Aspekt genannt, nämlich Antwortfähigkeit als Grundbedingung menschlicher Existenz. Durch sie wird ein prozessuales und unabgeschlossenes Verstehen möglich, das
ein Überlassen an das ‚Nicht-Wissen‘ und den ‚Zwischenraum‘, in dem dieses Verstehen überhaupt erst entsteht, nicht nur einbezieht, sondern zur Voraussetzung hat. Ein solches Verstehen
nimmt sein Ziel und Ende nicht vorweg, sondern bleibt ‚im Fluss‘ und gibt die vorgefertigten Konzepte und Vorstellungen vom Anderen auf. Es ist ein Verstehen, das sich dem ‚Transit der
Begegnung‘, d.h. dem ‚Zwischenraum‘ des Nicht-Wissens überlässt, um nicht nur wieder bei den eigenen Vorstellungen vom Anderen und damit bei sich selbst, sondern wirklich beim Anderen zu
landen. Ein Verstehen, das den Zwischenraum als einen ‚open space‘ begreift, in dem sich alles Mögliche ereignen kann.
Das könnte eine somatischen Wachsamkeit und Haltung ermöglichen, die Egozentrismus und Anthropozentrismus zumindest relativiert und die Solidarität (verkörperter) endlicher Wesen spürend lebt.